Brigitte Reimann über ihre Schwester Dorothea (Dorli)

„Ich arbeite an den letzten Seiten der Geschwister. Heute bekam ich einen Brief von Dorli. Mein Schwesterchen wird klug und vernünftig. Sie schrieb auch von unseren Hamburgern, denen sie sich immer mehr entfremdet, sie erträgt ihre herablassende Arroganz und Oberflächlichkeit nicht mehr, dieses beständige 'man trägt das nicht' und 'ihr in der Ostzone'. [...]" (S. 244)

„Vorige Woche fuhren wir Hals über Kopf nach Burg. Meine kleine Dorli-Schwester hatte einen Panikbrief geschrieben: sie bekommt ein Kind, sie hatte, Kurzschlußreaktion, ihre Exmatrikulation eingereicht und war verzweifelt vor Angst. Sie war sicher, die Eltern würden sie rausschmeißen. Ich regte mich sehr auf (Jon sagte, ich gebärde mich, als sollte ich mein erstes Enkelkind bekommen), ich wollte zum Prorektor nach Rostock und vor allem die Eltern beschwichtigen. Wir rasten nach Burg und trafen Vati und Mutti - glückstrahlend und eifersüchtig bedacht, daß sie das Baby für ein paar Jahre behalten dürfen. Kein Gedanke, daß ich es nehme, wie ich es mir ausgemalt hatte. Dorli mußte in ihrer Seminargruppe den übereilten Antrag rückgängig machen, sie wird weiterstudieren. Wie wenig man seine Eltern kennt!  Ich war wieder sehr stolz auf sie.“ (S. 250)

„Die Dorli hat mir heute geschrieben, sie [ist] ein so liebes vernünftiges Mädchen geworden. Frau H [...] ... mir war ganz komisch zumute, als ich die Adresse schrieb - vor kurzem war sie noch 'meine kleine Schwester'. Jetzt kitzelt Baby sie im Bauch [...]." (S. 253)

Brigitte Reimann: Ich bedaure nichts. Tagebücher. 1955-1963