Zitate - Brigitte Reimann und Jon K[...]

01.02.61
"(...)
Und nun also doch: Jon K[...] (30) Philosophiestudent, vor dem Examen geflogen, zweimal aus der Partei entfernt, Arbeit auf einer MTS, [...] noch immer nicht gescheiter und ruhiger geworden, Raupenfahrer bei BMK. Ein enfant terrible. (...) Ein Mensch, der nie wirklich glücklich sein kann, weil er alles, jeden Gedanken, jedes Gefühl seziert und Gesetze daraus ableitet. (...) Ein schrecklicher Mensch. Wir hatten sofort die „Antenne“ füreinander. Wir stritten uns erbittert: Gefühl gegen Verstand. [...]
(...)
Jon sagte: „Ich liebe dich wie ein schönes Kunstwerk, - das den Vorzug hat, lebendig zu sein.“ er küßte meine Finger. „Jeder einzelne Finger verdient das Gütezeichen Q.“ [...]
(...)

Wir analysierten sehr kalt und vernünftig unsere Beziehung und legten die Spielregeln fest – wir wußten schon, daß etwas wuchs, was den Verstand überschwemmte." (S. 157 ff)

31.03.61
"Statt zu arbeiten, stand ich immerfort am Fenster und starrte hinaus auf eine Straße, auf der es nichts zu sehen gibt. [...]"   (S. 174)

12.04.61
"(...) Wenn ich es nicht aus dem Kalender ersähe, wüßte ich nicht, daß Frühling ist. [...] Sonntag sah ich von K.s Wohnungsfenster aus einen blühenden Baum, es ging mir durch und durch. [...]" (S. 176)

Brigitte Reimann: Ich bedaure nichts. Tagebücher. 1955-1963

03.01.65
"Jon hat einen scheußlichen Job, im Tagebau als Bandwärter, mit 'rollender Woche', und er ist immerzu griesgrämig, weil er da draußen verblödet: acht Stunden lang starrt er auf ein Band, das mit Sand beladen an ihm vorüberrollt. Lesen darf er nicht, schlafen darf er nicht, er wird schlecht bezahlt – aber er hat eine 'Perspektive', sagt sein Werkleiter. (...) Er hat jetzt Spätschicht, heute ist Sonntag, ohnehin ein unerträglicher Tag in Hoy. Gestern dasselbe: allein bis in die Nacht, Lärm bei den Nachbarn – alle schalten zu derselben Zeit den Fernsehapparat ein (...)." ( S. 112)

Reimann, Brigitte: Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970