Zitate - Brigitte Reimann über die Architektur Hoyerswerdas

03.03.63
"Kikeriki, die Pechmarie ist wieder hie, und sie sitzt, umgeben von brüllenden Radios und plärrenden Babys, die ihr nicht gehören, in einem viel zu neuen Zimmer, an einem viel zu neuen Schreibtisch, in einem viel zu alten Sessel (...). Das Kombinat hat mich wieder..., und die Träne ist auch gequollen, gleich am ersten Tag, als ich in diese architektonische Unsäglichkeit einfuhr: Standard, wohin du siehst, Typenhäuser, die schnurgerade Mainstreet... Zu Hause, zwischen halbausgepackten Koffern, widmete ich mich einer tröstlichen Flasche Wodka und hörte alle meine traurigsten Blues (...)." (S. 145)

11.06.63
"Ich habe mich sehr darüber gefreut, daß ihnen Die Geschwister gefallen haben.
Sie haben mich auch bestärkt mit Ihren Bemerkungen über unsere Stadt. Hier reagiert man bös auf jene Kritik: Es gab eine behutsame Protestnote von der Bezirks-Baukommission, und die Zeitung entfesselte einen Leserstreit über die Frage 'Kann man in Hoyerswerda küssen?', die auf ebendiesen Mangel an Intimität zielte und sich zu einem grotesken Mißverständnis ausgewachsen hat. Entrüstete Leser schreiben, daß sie für ihre Freizeit Besseres wüßten als nur Küssen, daß die Jugend ein recht auf Verliebtsein hat, daß ihr Leben ausgefüllt sei durch ständige Qualifizierung und daß im übrigen unsere sozialistische Stadt jung und schön sei.
Wenn man eine gewisse Zahl von professionellen Leserbriefstellern abzieht, bleiben aber immer noch genug Leute, deren vermutlich aufrichtige Meinung mir zu denken gibt. Manche meiner Bekannten sagen: Was regst du dich auf? Die Leute empfinden das gar nicht so wie du... Ist das denn wahr? Und wie lange wird es noch wahr sein? Mir bereitet es psychisches Unbehagen, wenn ich durch die Stadt gehe – mit ihrer tristen Magistrale, mit Trockenplätzen zwischen den Häusern, wo Unterhosen und Windeln flattern, mit einer pedantischen und zudem unpraktischen Straßenführung, die die Erfindung des Autos ignoriert, mit Typenhäusern, Typenläden, in denen man eben nur seinen Bedarf an Brot und Kohl deckt, mit Typenlokalen, die nach Durchgangsverkehr und Igelit riechen.
Ich sträube mich zu glauben, daß andere dies alles nicht sehen und als bedrückend empfinden. Wahrscheinlich läßt sich in den fertigen Wohnkomplexen nichts mehr korrigieren, aber es müßte doch möglich sein, die Pläne für die nächsten Komplexe in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Entschuldigen Sie, bitte, daß ich Ihnen soviel von Hoy vorklage; das Thema liegt mir auch deshalb am Herzen, weil mein nächster Held Architekt sein wird, und nun versuche ich von allen Leuten, deren ich habhaft werden kann, zu erfahren, wieweit die Architektur einer Stadt das Lebensgefühl ihrer Bewohner zu prägen vermag, und mir scheint, sie trägt in gleichem maße zur Seelenbildung bei wie Literatur und Malerei, Musik, Philosophie und Automation.

Für Ihre Ermutigung danke ich Ihnen – ich habe nämlich schreckliche Angst vor der nächsten Arbeit -, und wenn in zwei oder drei Jahren das Buch erscheint, so wünsche ich mir, daß Sie und Ihre Familie es mit Anteilnahme und Vergnügen lesen werden."

03.10.63
"(...) Ich beschäftige mich jetzt intensiv mit Architektur (das Arbeitsgebiet meiner neuen Heldin), und auf einmal hat mich 'die Mutter der Künste' in ihren Bann gezogen, mehr noch als die Malerei, vielleicht, weil sie so unlösbar verknüpft ist mit Menschen, so direkt ihnen dient. Satellitenstädte von der Art Hoyerswerdas bringen interessante psychologische Probleme mit sich. Vor einiger Zeit schreib ich einen Artikel, in dem ich einige Probleme andeutete, und es gab einen wilden Wirbel, ein Für und Wider in der Zeitung, begeisterte Zustimmung und böse Beschimpfungen. Da ich auch den genialen Chefarchitekten angegriffen habe, hat die Geschichte Kreise gezogen, in der Bauakademie gibt es nämlich schon seit langem einen tiefgreifenden erbitterten Streit wegen des industriellen Wohnungsbaus. Morgen abend ist großes öffentliches Schlachtfest, aber ich marschiere hin, wohlausgerüstet mit Neurotontabletten und einem Haufen etwas ungeordneten technischen wissens. Natürlich ist es für meine Arbeit großartig, daß ich zwischen zwei Feuer geraten bin, die Argumente beider Seiten kenne und meine Heldin auf den goldenen Mittelweg schicken kann, den zwischen Baukunst und Industrialisierung, respektive deren künstlerisch und technisch möglichst vollkommene Verquickung." (S. 170)

07.07.64
"(...) Sonntag war Bergmannstag. Unter dem Fenster lärmte ein Jahrmarkt, auf dem Platz, wo 1970 unser Theater gebaut werden soll. Neulich sagte der Professor, daß ein Wettbewerb um die Projektierung des Zentrums ausgeschrieben werde. Aber müßte ein Architekt nicht sehr genau die geistige und soziale Struktur einer Stadt kennen, bevor er ihr die Räume für Erholung und Begegnung entwirft? Möglich, daß ein anspruchsvolles Theater leer stehen würde: Wahrscheinlich brauchten wir etwas in der Art zwischen Theater, Kino und Konzertcafé. Wir träumen immer noch von einem unbestechlich arbeitenden Forscherteam: Soziologen, Ökonomen, Künstlern und Kybernetikern ..." (S. 189)

03.05.65
"Wir waren in Moskau und sind im Park spazierengegangen. Endlich wieder blühende Sträucher sehen, die Knospen und hellgrünen Blätter an den Kastanien, Vögel singen hören... Wenn man in dieser Stadt lebt, wird die Natur wieder zum Abenteuer, und jedes Gänseblümchen wird zur Sensation. (...)
Auf der Rückfahrt besahen wir uns ein paar Tagebauaufschlüsse und die künftige Baustelle des Kraftwerks Boxberg: Kiefernwald, Bündel gefällter Bäume, zwei oder drei Baracken. Auf den Waldwegen konnten wir nur Schritt fahren. Der Sand ist zerpflügt von Kettenfahrzeugen, die metertiefen Löcher stehen voll Regenwasser. Ein paar verschlafene sorbische Dörfer, nicht mal ein Hund auf der Straße. Hühner, eine reizende kleine Holzkirche. Eine todeinsame Landschaft im Wald, und in ein paar Jahren wird es dort aussehen wie bei uns in Pumpe, Wohnblocks, Industriebauten, Asphaltstraßen, Fremde in den Dörfern." (S. 216)

Elten-Krause, Elisabeth/ Lewerenz, Walter: Brigitte Reimann in ihren Briefen und Tagebüchern

18.02.63, Petzow
"(...) nachts
[...] Ich bin todmüde, 20 Seiten Drehbuch geschafft. Aber ich muß endlich die Sache mit Prof. Norden hinter mir haben, und meine Müdigkeit zwingt mich zur Kürze. [...] Zuerst kam er zu mir, um zu sagen, wie ihn meine Schilderung von Hoy an die Städte im amerikanischen Mittelwesten erinnert habe, in denen er während des Exils lebte: die Mainstreet, rechts und links schnurgerade Straßen, ein Haus wie das andere, neu und langweilig." (S. 294)

25.07.63, Berlin
"Nachmittags trafen wir Ullmann, den Parteisekretär von VEB Berlin-Projekt, der mich um eine Unterredung gebeten hatte. Die Parteigruppe macht sich Sorgen um mich, weil ich dem Professor (Henselmann), dem  Demagogen, in die Hände gefallen bin. [...] Das ist alles ziemlich rührend, aber auch ärgerlich, und nur mein Interesse für verbogene Menschen veranlaßte mich zu dem Versprechen, öfter und gründlich über alle Probleme mit ihm, U., zu sprechen. er sieht in H. eine Art von attraktivem Teufel (...), für politisch gefährlich, fachlich uninteressant, eine 'schillernde Seifenblase', wie er ihn nannte. er hegt gegen ihn den ganzen Abscheu, den man für sein einstiges Idol empfindet.
Natürlich ging es wieder um die Industrialisierung, das Bauen von vorgefertigten teilen, und natürlich hat U. recht: wir müssen so schnell und billig wie möglich bauen. Obgleich er versicherte, es gehe hier nicht um eine Generationsfrage, klang immer wieder das Mißtrauen gegen die 'Alten' durch, die die Notwendigkeit des industriellen Bauens nicht begriffen hätten oder es sogar sabotieren. Mir scheint jedoch, daß diese Typenhäuser, mag ihre Fassade auch abwechslungsreich gestaltet sein, nicht das Gesicht der sozialistischen Baukunst repräsentieren.
Mir kommt ein Verdacht: moderne Architektur ähnelt sich im Osten wie im Westen. Wie, wenn Architektur nicht in hohem Maße an Klassen gebunden, wenn sie Ausdruck einer modernen Geisteshaltung wäre, die wir – in vielen Zügen jedenfalls – mit dem Westen gemein haben? Ich muß das überdenken, wahrscheinlich ist es nicht marxistisch. Aber auch der Marxismus bedarf einer Revision, er muß gewissermaßen auf den letzten Stand der Wissenschaft gebracht werden, das liegt in der Natur der Sache." (S. 330)

27.08.63
"(...) Wieder einmal Entdeckung der Publizistik: Die LR hat nach monatelangem Zögern einen Artikel über die Mängel in der Neustadt gedruckt. Erstaunliches Echo: ich habe den Bewohnern aus dem Herzen gesprochen. Wo immer wir hinkommen, dankt man mir für die Offenheit, mit der ich die schwelenden Probleme aufgegriffen habe. Ich wittere Unannehmlichkeiten: offiziell gilt Hoy als das Muster einer schönen sozialistischen Stadt. Es ist eine triste Bienenwabe." (S. 337)

13.09.63
"Die Stadtkritik greift um sich, ich habe in ein Wespennest gestochen. Ein paar Gegenangriffe [...]. Andererseits: offizielle Zustimmungserklärungen von Betrieben oder Betriebsteilen und die Sympathie meiner vielen – und unbekannten – Bekannten. Neuerdings wird die Regierung bemüht, und die SED-Kreisleitung hat schnell geschaltet und entwirft Pläne für ein – natürlich – provisorisches Klubhaus." (S. 338)

04.11.63
"Seit drei tagen Diskussion mit zwei jungen Architekten, einem Griechen und einem deutschen, die gründliche soziologische Untersuchungen in unserer Stadt durchführen. Eigentlich arbeiten sie gegen ihre Vorgesetzten, sie haben einen Fragebogen zusammengestellt und in den schulen verteilt – eine Art Meinungsforschung, die in der Bauakademie nicht auf Gegenliebe stoßen wird. (...) Freilich hat auch der Bogen seine Klippen – aber wenigstens ist er ein erster mutiger Versuch. Sie hoffen, daß die Ergebnisse der Auswertung veröffentlicht werden, und bestimmt wird es an dem Chefredakteur Flirl nicht liegen (auch so ein unbequemer junger Mann – ich habe ihn hier in Hoy, als er vor dem Forum bei uns war, kennengelernt). Es ist schrecklich zu sehen, wieviele Umwege wir gehen, wieviele Kräfte brachliegen, wie Irrtümer zu Dogmen versteinern.
Die Baupläne sind zum Teil einfallslos, zum Teil einfach irreal. Auf dem Papier nimmt es sich gut aus, wenn an drei Ecken der Stadt ein Stadion liegt, für die in Wahrheit aber keine Mittel da sind. Wir sprachen darüber, wie denn eine soz. Stadt aussehen muß, wie weit ein soz. Leben abhängig ist von den Räumlichkeiten, die für Begegnungen geschaffen werden. (...)
Die Fragen also: Aufteilung in WK? Wie groß sollen diese Wohneinheiten sein? Brauchen sie einen Klub, ein  Zentrum (eigentlich eine Vorstufe zum Stadtzentrum)? Kann man sich mit Räumen für die Hausgemeinschaften begnügen? Wie suchen die Leute den Kontakt mit anderen? Suchen sie ihn überhaupt? [...] Wie muß das Zentrum aussehen, das ja immer eine neutrale Sphäre für Begegnungen schafft? [...]
Pläne für Schlafstädte mit Zentrum, das allein dem gesell. Leben dient. Wieweit ersetzen Grünanlagen den Einzelgarten? Ich notiere ganz unsystematisch, in meinem Notizbuch werde ich das genauer untersuchen, um handfestes Material für mein Buch zu haben.
Ich habe noch tausend andere Fragen: Wie wirkt sich die Psyche, die Mentalität eines Volkes auf die Herausbildung soz. Lebens aus? Suchen wir überhaupt die gesellschaftliche Begegnung? Und, was ist das: Lebensstandard? Warum verändert er Menschen, wie verändert er?" ( S. 357 ff)

Reimann, Brigitte: Ich bedaure nichts. Tagebücher. 1955-1963

22.05.64
"(...) In Hoy wird sich nun doch – nach langem Hin und Her in der Bauakademie – allerhand verändern: wir bekommen wieder eine neue, vernünftige Konzeption für den weiteren Aufbau der Stadt. ich grinste blöd vor Stolz: das alles hab ich mit meinem Artikel in Gang gesetzt." (S. 31)

03.05.65
"(...) Wir waren in Muskau und sind im Park spazieren gegangen. Endlich wieder blühende Sträucher sehen, die Knospen und die hellgrünen Blätter an der Kastanie, Vögel singen hören... Wenn man in dieser Stadt lebt, wird die Natur wieder zum Abenteuer, und jedes Gänseblümchen, der Anemonenbusch wird zur Sensation." (S. 126)

09.08.68
"(...) In den letzten Jahren sind die Gruben abgesoffen, die Tagebaue, zwischen denen die Betonbahn verläuft. Das Becken mit der Kohlentrübe ist vollgelaufen, ein fettiger schwarzer See; damals (wann? vor drei oder vor fünf Jahren?) sah man noch den den Boden, die Birken und Sträucher, die nun längst ertrunken sind. Merkwürdig, wie man sein Herz an diese öde Landschaft gehängt hat, an diese unmögliche Stadt, an die Leute [...]. Unser Cenrum-Kaufhaus sieht elegant aus, ist aber schon ziemlich runtergewirtschaftet, schlampig wie alle Läden und Restaurants hier, die nach wer weiß welchem teuflischen Prinzip träge und lotterig werden, kaum bestehen sie ein paar Wochen. Trotzdem – wenn ich denke, daß nur ein paar Blöcke in einer Sandwüste standen, als wir hierher kamen, und jetzt ist es eine Stadt von fast 60 000 Einwohnern, und das Kombinat ist ein riesiger Komplex geworden (in dem so gut wie nichts ordentlich funktioniert). Die Kohle geht zuende, vielleicht ist Hoy in zwanzig Jahren eine Geisterstadt wie die verlassenen Goldgräber-Siedlungen.
Trotzdem (...) haben wir für ein Theater gekämpft; das war mein letzter streich hier, und die Leute vom Bezirk werden mich jedenfalls in übler Erinnerung behalten." (S. 212)

Reimann, Brigitte: Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970

11.06.63, Hoy[erswerda]
"Lieber Herr Professor Henselmann,
(...) Mir bereitet es physisches Unbehagen, wenn ich durch die Stadt gehe – mit ihrer tristen Magistrale, mit Trockenplätzen zwischen den Häusern, wo Unterhosen und Windeln flattern, mit einer pedantischen und zudem unpraktischen Straßenführung, die die Erfindung des Autos ignoriert, mit Typenhäusern, Typenläden, in denen man eben nur seinen Bedarf an Brot und Kohl deckt, mit Typenlokalen, die nach Durchgangsverkehr und Igelit riechen. Ich sträube mich zu glauben, daß andere dies alles nicht sehen und als bedrückend empfinden. Wahrscheinlich läßt sich in den fertigen Wohnkomplexen nichts mehr korrigieren, aber es müßte doch möglich sein, die Pläne für die nächsten Komplexe in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Entschuldigen Sie, bitte, daß ich Ihnen soviel von Hoy vorklage; das Thema liegt mir auch deshalb am Herzen, weil mein nächster Held Architekt sein wird, und nun versuche ich von allen Leuten, deren ich habhaft werden kann, zu erfahren, wie weit die Architektur das Lebensgefühl ihrer Bewohner zu prägen vermag, und mir scheint, sie trägt in gleichem Maße zur Seelenbildung bei wie Literatur und Malerei, Musik, Philosophie und Automation. (...)" (S. 6 ff.)

21.06.63, Berlin
"Liebe Frau Reimann,
(...) Kann man nicht unsere sozialistische Heimat so gestalten, daß man nach ihren Städten Heimweh empfinden kann? Fragen über Fragen. Es wäre schön, wenn wir einander helfen könnten, eine Antwort zu finden.
Ihr Henselmann" (S. 10)

30.08.63, Hoyerswerda
"Lieber, verehrter Professor Henselmann,
(...) Brigittes Artikel 'Bemerkungen zu einer neuen Stadt' ist jetzt endlich in der Lausitzer Rundschau erschienen, und seitdem wird sie von allen möglichen Leuten, sogar auf der Straße, angehalten, angeredet, und alle sagen, dieser Artikel wäre ihnen genau aus dem Herzen gesprochen. So eine Wirkung, unmittelbar erlebbar, ist wohl der schönste Lohn für alle Mühe und auch allen persönlichen Mut. Selbst die Mehrzahl der Funktionäre kann nicht umhin, zuzustimmen. Aber was wird das Ganze an unserer leicht verpfuschten Stadt ändern und besser machen? (...)
Ihr Siegfried Pitschmann" (S. 17)

Kirschey-Feix, Ingrid (Hrsg.): Brigitte Reimann/ Hermann Henselmann.  Mit Respekt und Vergnügen – Briefwechsel